Publikation

Diagnostische Herausforderungen bei einem 54-jährigen Mann mit einer Kleingefässvaskulitis

Wissenschaftlicher Artikel/Review - 29.07.2020

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Zitation
Padberg Sgier B, Veraguth K, Median D, Niklaus M, Rubbert-Roth A, Glaser-Gallion F, Neumann T. Diagnostische Herausforderungen bei einem 54-jährigen Mann mit einer Kleingefässvaskulitis. Swiss Med Forum 2020; 20:466-468.
Art
Wissenschaftlicher Artikel/Review (Deutsch)
Zeitschrift
Swiss Med Forum 2020; 20
Veröffentlichungsdatum
29.07.2020
Seiten
466-468
Verlag
Swiss Medical Forum
Kurzbeschreibung/Zielsetzung

Hintergrund
Vaskulitiden sind Autoimmunerkrankungen, die sich in unterschiedlichen Organsystemen manifestieren. Die Klassifikation dieser Erkrankungen erfolgt entsprechend der betroffenen Gefässabschnitte, dem klinischen und histologischen Bild sowie nach den vorhandenen Antikörpern. Eine Untergruppe der primär systemischen Vaskulitiden ist über die typischerweise nachweisbaren antineutrophilen zytoplasmatischen Antikörper (ANCA) als ANCA-assoziierte Vaskulitis charakterisiert. Die Granulomatose mit Polyangiitis (GPA, Morbus Wegener) ist eine nekrotisierende Vaskulitis der kleinen Gefässe mit Granulomen vor allem im Bereich der Atemwege und in den Nieren. Lokalisierte Manifestationen der GPA können im Bereich der oberen Atemwege oder Augen auftreten [1]. Während ­ANCA bei systemischen Verläufen der Erkrankung in den meisten Fällen nachweisbar sind, finden sich diese bei lokal begrenzten Verläufen nur in 83% der Fälle [2]. Die ANCA-Diagnostik erfolgt entsprechend der Konsensusempfehlungen von 2017 bei Verdacht auf eine ANCA-assoziierte Vaskultis durch Antigen-spezifische Assays (ELISA) für Proteinase 3 (PR3) und Myeloperoxidase (MPO) [3]. Bei negativem Testergebnis und hohem klinischem Verdacht sollte ergänzend die indirekte Immunfluoreszenz (IIF) durchgeführt werden. In der IIF an humanen ethanolfixierten neutrophilen Granulozyten kann man unterschiedliche zytoplasmatische Fluoreszenzmuster unterscheiden: granulär zytoplasmatisch (cANCA), perinukleär (pANCA) oder atypisch zytoplasmatisch (xANCA). Dem Nachweis von PR3-ANCA entspricht in den meisten Fällen der positiven IIF für cANCA und der Nachweis von MPO-ANCA korrespondiert meist der IIF für pANCA [3].

Fallbericht
Anamnese und Status
Wir berichten über einen 54-jährigen Patienten, der aufgrund einer unklaren systemischen Entzündung untersucht wurde. Er präsentierte sich in reduziertem Allgemein- und Ernährungszustand (Body Mass Index 21,2 kg/m2). Die führenden Symptome waren trockener Husten, Rhinosinusitis, Xerostomie, Odynophagie, Epiphora, Otalgie, Hypakkusis, Fieber (39 ºC), Gewichtsverlust (neun Kilogramm in fünf Monaten) und Müdigkeit. In der klinischen Untersuchung bestätigte sich die Hypakkusis, und es bestanden eine Rhinosinusitis sowie eine Tuben­ventilationsstörung. Darüber hinaus fielen eine weisslich belegte Zunge und Unterschenkelödeme ohne weitere kardiopulmonale Befunde auf.

Befunde und Diagnose
In der Labordiagnostik zeigten sich ein CRP von 100 mg/l (normal <5 mg) und eine hypochrome mi­krozytäre Anämie mit Hb 74 g/l (140–180 g/l), MCH 26 pg (27–31 pg), MCV 76 fl (80–95 fl)]. Das Kreatinin war normwertig. In den Urinuntersuchungen war kein aktives Sediment vorhanden. Es stellte sich lediglich eine diskrete Mikroalbuminurie dar (Albumin/Creatinin Ratio 5,3 g/mol Creatinin; normal 2,26 g/mol Creatinin, total Proteine/Creatinin Ratio 14,93 g/mol Creatinin; normal <7,9 g/mol).

Im Thorax-Computertomogramm (CT) zeigten sich eine generalisierte, zentral betonte peribronchovaskuläre Strukturvermehrung und vereinzelte intrapulmonale Noduli und Konsolidationen (Abb. 1). In der Bronchoskopie fielen eine im distalen Abschnitt nach links verschobene Trachea sowie eine an der Hauptcarina pflastersteinreliefartige kontaktsensible Schleimhaut auf. In der bronchoalveolären Lavage (BAL) war die ­Gesamtzellzahl leicht erhöht mit einer Vermehrung der neutrophilen Granulozyten auf 44%. Die Feinnadelpunktion der Lymphknoten (LK)-Stationen 7 und 10 links zeigte eine blande lymphatische Zellpopulation, keine Granulome oder maligne Zellen. Mikrobiologisch wurde eine bakterielle Ursache ausgeschlossen.

Nachdem eine maligne oder infektiöse Ursache gemäss der Anamnese und Befunde unwahrscheinlich erschien, bestand der Verdacht auf eine systemisch entzündliche Erkrankung aus dem rheumatologischen Formenkreis. In einer 18F-Fluor-Desoxyglukose-Positronen-Emissions-Tomographie (FDG-PET)-Untersuchung sollten ein entzündlicher Fokus dargestellt und ein möglicher Biopsieort gesucht werden. Ein ­vermehrter Glukosemetabolismus bestand in den ­peribronchovaskulären Weichteilvermehrungen (exemplarisch Mittellappensegmentbronchus «standardized uptake value» [SUV] max. 6,4), den nodulären Konsolidationen im Lungenparenchym (Oberlappen rechts dorsal SUV max. 2,1), den pleuranahen Konsolidationen (Lungenapex SUV max. 5,6), in den Nasenhaupt- und allen Nasennebenhöhlen (SUV 8,9), in der Tonsilla pharyngea beidseits (SUV 10) sowie in der ­infrarenalen Aortenwand (SUV 5). Anhand des Verteilungsmusters der entzündlichen Veränderungen, der klinischen und laboranalytischen Befunde kamen differentialdiagnostisch für uns eine ANCA-assoziierte Vaskulitis und eine IgG4-assoziierte Erkrankung in Betracht. Der Serum IgG4 Spiegel war erhöht (539 mg/dl, normal <135 mg/l), PR3-ANCA und MPO-ANCA (ELIA ImmunoCap™) und Immunfluoreszenz (NOVA Lite® ANCA, ethanol fixed) waren negativ. In einer zweiten Bronchoskopie mit gezielten Biopsien stellte sich wiederum nur eine nicht charakteristische Entzündung ohne Hinweise auf eine Vaskulitis oder Granulome dar. Nach einer Biopsie der unteren rechtsseitigen Nasenmuschel und ­einer rechtsseitigen Polypektomie stellte sich histologisch in der unteren Nasenmuschel eine ulze­röse nekrotisierende Entzündung/Rhinitis mit Nachweis diffus verteilter mehrkerniger Riesenzellen dar (Abb. 2). Die IgG/IgG4-Ratio der vermehrt vorliegenden Plasmazellen war <40%, somit nicht aussagekräftig für eine IgG4-Erkrankung. Eine Eosinophilie lag nicht vor. Aufgrund der morphologischen Befunde wurde das Vorliegen einer GPA in Betracht gezogen.

Therapie und Verlauf
Die Entscheidung über die Remissionsinduktions­therapie orientiert sich an der Schwere der Erkrankung und den Organmanifestationen. Alternativ stehen für die systemische, potentiell organbedrohende Erkrankung zwei Therapieregime zur Auswahl: Cyclophosphamid oder Rituximab [4]. Allerdings besteht in der Schweiz eine Limitatio für den Einsatz von Rituximab. Die Therapie kann nur erfolgen, wenn ein Rezidiv unter Cyclophosphamid auftritt, Kontraindikationen gegen Cyclophosphamid vorliegen, oder die Familien­planung noch nicht abgeschlossen ist. Wir entschieden uns für eine Therapie mit Cyclophosphamid nach dem CYCLOPS-Schema (6 Pulse mit 15 mg/kg über 13 Wochen) bis zum Erreichen der Remission [4]. Gleichzeitig wurde eine Glukokortikoidtherapie mit Methylprednisolon 150 mg i. v. über drei Tage, anschliessend 1 mg/kg oral mit Dosisreduktion über die folgenden Monate begonnen. Darunter beobachteten wir eine rasche ­Verbesserung der Symptomatik, ein sinkendes CRP (17 mg/l) und einen Hb-Anstieg (124 g/l). Für die Remissionserhaltung war eine Behandlung mit Azathioprin oder Rituximab geplant.

Diskussion
In der hier dargestellten Kasuistik lag eine systemisch entzündliche Erkrankung mit Beteiligung des unteren und oberen Respirationstrakts und mit histologischem Nachweis granulomatöser Veränderungen vor. Differentialdiagnostisch kamen neben der GPA eine IgG4-assoziierte Erkrankung oder eine andere Kleingefässvaskulitis sowie eine eosinophile Granulomatose mit Polyangiitis (EGPA) oder mikroskopische Polyangiitis (MPA) in Betracht [1].

IgG4 kann im Serum von Patienten mit ANCA-assoziierte Vaskulitiden erhöht sein [5]. Der Patient erfüllte aufgrund des Laborbefunds die Umehara-Kriterien für eine mögliche IgG4-assoziierte Erkrankung, wobei in diesem Fall zuvor andere Erkrankungen ausgeschlossen werden müssten [5]. Für eine EGPA fehlten das Asthma und die Eosinophilie, und Granulome sind nicht charakteristisch für eine MPA [1].

Die Diagnose einer GPA erfordert zunächst die Einordnung der Erkrankung in das Spektrum der ANCA-assoziierten Vaskulitiden. Dafür sollte mindestens eines der folgenden Kriterien erfüllt sein: histologischer Nachweis einer Vaskulitis, klinische Surrogatmarker (Mononeuritis multiplex, Purpura) oder Nachweis von ANCA und mindestens eine Organmanifestation ausserhalb des Respirationstrakts. Erst im Anschluss können die Klassifikationskriterien des «American College of Rheumatology» (ACR) von 1990 angewendet werden [4, 6] .

Die besondere Herausforderung bei diesem Fall bestand darin, bei fehlendem ANCA-Nachweis sowie ohne histologischen Nachweis einer Vaskulitis eine ­Erkrankung aus der Gruppe der ANCA-assoziierten Vaskulitiden zu klassifizieren. Wäre bei diesem Patienten ein ANCA (PR3 oder MPO) nachweisbar gewesen, dann wäre die Erkrankung problemlos als GPA klassifiziert worden. Die Definition der GPA entsprechend der Nomenklatur des «International Chapel Hill Consensus» von 2012 war ebenfalls erfüllt [1]. In der Literatur sind bis zu 96% ­aller GPA-Patienten ANCA-positiv, bei lokalisierten Verläufen 83% [2]. Die ANCA-negativen Fälle sind in der Regel Verlaufsformen mit limitiertem Organbefall, üblicher­weise im oberen Respirationstrakt. Im hier beschriebenen Fall war auch der untere Respirationstrakt betroffen. Die im PET-CT dargestellte Entzündung der infrarenalen Aorta bleibt unklar, kann aber potentiell ebenfalls einer Manifestation der GPA entsprechen.

Es handelt sich somit um die sehr seltene Konstellation einer systemischen GPA mit fehlendem Nachweis von ANCA. Diese Konstellation wird bei der Anwendung der aktuellen Kriterien nicht berücksichtigt. Es werden derzeit auf Basis einer umfangreichen Datenbank der «Diagnostic and Classification Criteria for Vasculitis Study» (DCVAS) neue Klassifikationskriterien für verschiedene Vaskulitiden entwickelt.