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Innovative Therapien in der Palliativmedizin: Therapie von Kachexie und Fatigue

Journal Paper/Review - Nov 1, 2011

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Citation
Strasser F. Innovative Therapien in der Palliativmedizin: Therapie von Kachexie und Fatigue. Arzneimittelforschung 2011 2011; 61:645-647.
Type
Journal Paper/Review (Deutsch)
Journal
Arzneimittelforschung 2011 2011; 61
Publication Date
Nov 1, 2011
Pages
645-647
Publisher
Editio Cantor Verlag Aulendorf (Germany)
Brief description/objective

Florian Strasser

PMS-Symposium Innovative Therapies in Palliative Care

Der Verlust von mentaler, emotionaler und körperlicher Kraft, empfunden vom Patient als Müdigkeit oder so genannte Fatigue wie auch als Verlust der Möglichkeiten der körperlichen Funktion, sind sehr häufige Komplikationen von unheilbaren fortschreitenden Krankheiten. Als Grundlage für die Beurteilung und Entwicklung von neuen multidimensionalen und multiprofessionellen Interventionen wurde in den letzten Jahren ein Schwerpunkt auf die Klassifikation und diagnostischen Systeme dieser beiden Syndrome, Kachexie und Fatigue, gelegt.

Die Klassifikation von Kachexie wurde einerseits genährt durch einen übergreifenden Ansatz, Kachexie zu definieren (Evans et al. 2008), mit einem Punktesystem für das Syndrom Kachexie, welches allerdings bis heute einer klinischen, prospektiven Validierung harrt. Für krebsbetroffene Patienten wurde durch einen formelleren Konsensusprozess (systematische Literatur-Reviews, Delphi-Prozesse) ein Klassifikationssystem entwickelt, welches für Krebspatienten zugeschnitten ist und als modulare Ergänzung zum generellen Klassifikationssystem von Kachexie verstanden werden kann. Diese Klassifikation enthält die Domänen von Nahrungsaufnahme, Muskelmassenverlust, Tumordynamik im Sinne des katabolen Motors und der Inflammation sowie Konsequenzen für die körperliche Funktion und emotionale Belastung (Fearon et al. 2011).

Ein wesentlicher Teil der Diagnose von krebsbedingter Kachexie sind der prozentuale Gewichtsverlust in den letzten 2 bis 6 Monaten, korrigiert für klinisch relevante Ödeme, Pleuraerguss und Aszites, sowie der Body-Mass-Index. Neu ist auch eine Aufteilung in drei Stadien, a) die so genannte Präkachexie mit bereits beginnenden neurohumoralen und/oder inflammatorischen Veränderungen, aber noch ohne starken Muskelverlust, b) die Kachexie als eigentliches Syndrom mit Muskelverlust und schließlich c) die refraktäre Kachexie, charakterisiert durch eine fortschreitende, refraktäre Tumorerkrankung mit hohem katabolen Potenzial, das nicht reversibel ist. Hierzu wurde ein neues Assessment-Instrument entwickelt, welches sowohl auf pragmatischem wie auch Spezialistenniveau diese Hauptdomänen im Alltag erfasst; die Validierungsstudien sind in Planung.

Für das Fatigue-Syndrom sind die Entwicklungen zwar älter, aber noch weniger weit fortgeschritten. Aktuell gibt es das „Cancer-related Fatigue Syndrome” mit auch einer Punkteliste, welche aber der syndromo-logischen Unterscheidung für den Alltag wenig gerecht wird. Neue Ansätze wie die Unterscheidung in körperliche, emotionale und kognitive Müdigkeit sind im praktischen Alltag hilfreich.

Das therapeutische Vorgehen mit zuerst des Verste-hens der Mechanismen der Syndrome Kachexie und Müdigkeit, daraus folgend gezielte pharmakologische, ernährungstherapeutische, psychologische und andere Interventionen, ist bei beiden Hauptsyndromen ähnlich. Auch wird wie bei anderen Syndromen in der Palliativmedizin kontrovers diskutiert, ob spezifische Subgrup-pen unterschiedlich behandelt werden sollen. So darf und muss z. B. die Frage, ob ein mechanismus- und zielorientiertes Vorgehen bei Delirium besser ist als ein pragmatisches, symptomorientiertes Interventionskonzept, auch bei Kachexie und Müdigkeit gestellt werden.

Die Therapieansätze für Kachexie sind multidimensional und multiprofessionell; sie beinhalten eine Optimierung der Nahrungszufuhr entweder oral, parenteral oder enteral. Zur Sicherstellung genügender Bewegungs- und Belastungssignale für den Muskel sind Bewegungstherapie, antikatabole resp. antientzündliche Maßnahmen (inkl. Chemotherapie bei Krebspatienten) sowie emotionale Unterstützung für Patient und Familie geeignet.

Bezüglich der Pharmakotherapie für die Kachexie sind fünf Hauptgruppen als mechanistische Ziele zu erwähnen: das Melanokortin-System im Hypothalamus, Ghre-lin, die anabolen Substanzen, gezielte Muskelsubstanzen sowie die antiinflammatorischen Substanzen.

Eine wahrscheinlich wichtige Entwicklung ist die Definition von so genannter standardmäßiger onkologischer und palliativmedizinischer Therapie im Sinne des „Evidence-Based Supportive Care”, die als Grundlage gefordert werden kann, bevor pharmakologische Studien eingesetzt werden. Hier darf die Parallele zu den Entwicklungen in der Onkologie gezogen werden, wo der Begriff „Best Supportive Care “ abgelöst werden soll (und wird) von „Evidence-Based Supportive Care “

Dies zeigen auch die multidimensionalen Therapieansätze für Kachexie auf, welche sowohl eine Zufuhrsteigerung resp. bedarfsgerichtete Zufuhr von Proteinen und Kalorien beinhaltet, eine definierte körperliche Aktivität jeden Tag mit Bewegung und Muskelbelastung der oberen und unteren Extremitäten, eine Bremsung des katabolen Reizes durch die Grundkrankheit, bei Krebs die Chemotherapie, und dann, darauf aufgebaut, die neue pharmakologische Intervention.

Aktuell sind zwei große Phase-III-Studien global unterwegs: eine mit dem Ghrelin-Analog Amorelin und eine mit dem selektiven Androgen-Rezeptor-Modulator Ostarin. Diverse Phase-II-Studien sind unterwegs wie auch einige Studien im frühen klinischen Entwicklungs-stadium.

Ein wichtiges Augenmerk bezüglich klinischer Studien wird auf die Definition der Population gelegt. Eine Entwicklung fokussiert darauf, dass gezielte, multidimensio-nale Interventionen bereits in der Präkachexie eingesetzt werden, zusammen mit Krebstherapien. Dazu plant das europäische Forschungsnetzwerk der europäischen Assoziation für Palliative Care (EAPC Research Network) eine randomisierte Studie, welche in einem Arm eine ge-zielte physiotherapeutische, ernährungstherapeutische, antiinflammatorische Intervention und im anderen Arm Standard-of-Care untersucht, mit dem Ziel, in 6 bis 8 Wochen den primären Endpunkt zu erreichen.

Die Population der Patienten mit dem vollen Syndrom Kachexie wird in Studien teilweise selektioniert; so untersucht z.B. eine Studie nur Patienten, welche ein inflammatorisches Kachexiesyndrom haben (Lenali-domid-Kachexie-Studie Schweiz), während andere diese Unterscheidung nicht machen, auch für antiinflammatorische Projekte.

Im Bereich der refraktären Kachexie besteht noch Klärungsbedarf, wie refraktär genau definiert ist. Es zeichnet sich ab, dass sehr breite Unterschiede im onkologischen Management bestehen, was die Zeiten von der Diagnose bis zum Chemotherapiebeginn wie auch die Anzahl erlaubter und applizierter Chemotherapielinien anbelangt.

Die Endpunktdiskussion ist auch wieder erwacht. Diese wird wahrscheinlich phasenspezifisch sein und sich an den Hauptelementen der Klassifikation orientieren. Konkret heißt dies, dass für die Präkachexie die Verhinderung einer Verschlechterung der körperlichen Funktion und Muskelmasse Endpunkte darstellen, aber auch die Tolerabilität und Effektivität von Chemotherapie.

Beim Kachexiesyndrom sind die Muskelfunktion und Massenendpunkte wichtig, aber auch die modularen Elemente von Nahrungsaufnahme, von körperlicher Funktion im Alltag, psychologische Aspekte und auch hier die Verläufe der Tumorerkrankung. Im refraktären Kachexiestadium sind klassische palliative Endpunkte wichtig, wie empfundene Lebensqualität in Bezug auf die Symptome Appetit, körperliche Müdigkeit und emotionaler Status, auch unter Einschluss der Familie. Es ist offensichtlich, dass bei diesen Endpunkten die Evidence-Based Supportive Care-Basistherapie für Kachexie eine zentrale Rolle spielen muss, da sie die Endpunkte direkt beeinflussen kann.

Bezüglich parenteraler Ernährung wird aktuell ein internationales Survey durchgeführt, welche die Frage stellt, wie das Behandlungsmuster in verschiedenen Ländern in Europa selektioniert ist, und zwar für Patienten, welche sowohl eine Tumorkachexie haben wie auch eine milde bis schwere Darmverschluss-Symptomatik, bei der eine parenterale Ernährung diskutiert wird. Die Studie soll Aufschlüsse geben über die verschiedenen Praktiken, zu einer Definition der Patientenpopulation führen und dann schließlich zu neuen Richtlinien und gegebenenfalls klinische Studien, welche die parenterale Ernährung gezielter untersuchen.

Weiter ist eine Krebskachexie-Kohortenstudie geplant, um das neue Klassifikationssystem im Krankheitsverlauf von Krebserkrankungen zu untersuchen und zu validieren und auch mehr zu verstehen über die Populationen von Patienten als Zielgruppe für neue ernährungstherapeutische pharmakologische Interventionen.

Die Gesellschaft für Kachexieabmagerung und Sarko-penie führt einen systematischen Literaturreview aller klinischen Studien durch, die in der letzten Dekade publiziert oder in Trial Registries registriert wurden. Hierbei werden auch Clinical Trial Designs mit Schwerpunkt auf Populationen, Endpunkte und Basismanagement analysiert. Diese Daten werden bei dem im Dezember stattfindenden Kachexiekongress präsentiert; dazu wird ein Konsensusprozess geführt, um neue Clinical Trials Standards der gleichen Gesellschaft zu etablieren. Diese Resultate werden 2012 erwartet. Bei diesen Diskussionen ist natürlich wichtig, dass es phasenspezifische Guidelines für Clinical Trial Design gibt, für early cachexia, für cachexia und (auch mit dem Schwerpunkt Palliativmedizin) für die refraktäre Kachexie.

Die Innovation kann daher zusammengefasst auf der Ebene der Klassifikation, der diagnostischen Systeme mit Etablierung von pragmatischen und validierten Erfassungsinstrumenten im klinischen Alltag, der Evidence-Based Supportive Care mit Schwerpunkt Kachexie und einer breiten Palette von neuen pharmakologischen Substanzen gesehen werden. Die Zukunft wird durch neue Clinical Trial Designs unterstützt werden können, um für die Patienten individualisierte effektive Therapien entwickeln zu können.

Bezüglich Fatigue gibt es eigentlich zwei größere Entwicklungen. Die eine betrifft die Psycho Stimulanzien, die andere die körperlichen Funktionsresp. Bewegungstherapien. Die Datenlage für Methylphenidat (Ritalin) hat sich insoweit verschärft, als einige randomisierte klinische Studien von adäquater Qualität zeigen, dass eine Subgruppe von Patienten tatsächlich subjektiv bezüglich Müdigkeit von einer kurz wirksamen Methyl-phenidat-Therapie profitiert. Mehrere Daten zeigen aber, dass Patienten Fatigue als Hauptsyndrom und weit fortgeschrittene Krankheiten haben müssen, damit dies auch greift. Eine Studie mit dem langwirksamen Methylphenidat und unter Einschluss von Patienten im Status nach der Krebskrankheit konnte keinen generellen Effekt dieses Medikaments zeigen. Die Subgruppen-analyse zeigte jedoch, dass Patienten mit dem schweren Syndrom der Fatigue profitieren. Die bewegungstherapeutischen Interventionen sind unterdessen für so genannte Survivors sehr gut belegt, d.h. für Patienten nach einer Krebserkrankung unter aktiver Therapie. Für Patienten mit fortgeschrittener, unheilbarer Krebserkrankung besteht die methodische Schwierigkeit einer komplexen Intervention bei einer komplexen Population. Die Datenlage erlaubt zu postulieren, dass die Konzepte der palliativen Rehabilitation Bestand haben, aber die Studienmethodologie und der Wirksamskeits-beweis der bewegungstherapeutischen Aspekte herausfordernd sind. Weitere Therapien für Fatigue, wie z.B. Erythropoetine, Transfusionen, andere Psychostimulan-zien, Antidepressiva etc., bewegen sich im breiten Feld der Differenzialdiagnose von Müdigkeit und den entsprechenden mechanismusbasierten Interventionen, welche über die eigentliche Syndromologie des Fatigue-Syndroms hinausgeht. Es ist z.B. offensichtlich, dass ein Patient körperlich und teilweise auch geistig müde ist, wenn er praktisch kein Hämoglobin mehr im Körper hat, und Strategien, dieses mit Transfusionen oder Erythropoetinen aufzufüllen, natürlicherweise die Müdigkeit verbessern. D. h. aber nicht, dass wenn dies ein Krebs-assoziiertes oder krankheitsbedingtes Müdig-keitssyndrom ist, eine unspezifische Therapie hilfreich sein muss. Daher ist es, wie bereits erwähnt, vordringlich, eine gute Klassifikation von Müdigkeit resp. Fatigue konsensuell zu erreichen, um Interventionen mechanismusbasiert und symptomorientiert, multidimensional und multiprofessionell einzusetzen.

Auch werden die Informationen der genetischen Voraussetzungen von Patienten zunehmend Einfluss nehmen auf die Selektion von Patienten. Publikationen zu genetischen Veränderungen assoziiert mit Kachexie sind erfolgt; bei Fatigue ist dies aufgrund der Breite der Definition des Syndroms etwas schwieriger zu beurteilen.

Fazit: Die Therapie von Kachexie und Fatigue ist ein Brennpunkt der Innovation, welche die Denk- und Praxiswelten von Palliativmedizin, diagnosespezifischen Interventionen, der Klassifikation und Genetik zusammenbringt. Entscheidend sind die gemeinsame Sprache auf der Ebene der Klassifikation, des Studiendesigns sowie engste interprofessionelle Kooperation.